Die Studienfahrt der WGJ1B nach Berlin

Da meine Schwester und ich als Möchtegern-Berlin City-Girls bereits während der Pfingstferien die Hauptstadt unsicher gemacht hatten, empfingen wir unsere Klasse WGJ1B und unsere beiden Lehrer Frau Zeiler und Herr Nagler am 13. Juni 2022 am Berliner Hauptbahnhof. Unser improvisiertes Willkommensschild, aka ein DIN A4 Blatt mit der Beschriftung „Willkommen WGJ1B", musste als herzliche Begrüßung ausreichen. Nun konnte unsere lang ersehnte Studienfahrt endgültig losgehen.

Im Hostel angekommen, begutachteten wir unsere Zimmer, die zwar schön, aber wie erwartet etwas klein waren. An sich ja kein Problem. Doch bei vier Mädels, die statt für fünf Tage gefühlt für zwei Wochen gepackt hatten, war schnell klar, dass es nicht lange braucht, bis das Chaos ausbricht. Das Überrollen auf die andere Bettseite, um überhaupt aufstehen zu können oder das Fehlen des Toilettenpapiers für zwei Tage sowie das Verschwinden von Gegenständen wurde in unserem Zimmer für die nächsten fünf Tag normal.

Doch die meiste Zeit waren wir ja ohnehin draußen unterwegs. Denn wer will in Berlin schon seine Zeit auf dem Zimmer verbringen? Am ersten Tag ging es mit dem schnellsten Aufzug Europas auf den sog. Panorama-Punkt, eine Aussichtsterrasse auf dem 101 Meter hohen Kolhoff-Hochhaus am Potsdamer Platz, von dem aus wir einen fantastischen Blick über die Hauptstadt genossen. Außerdem gab es dort oben eine Open Air-Ausstellung über die bewegte Geschichte des Potsdamer Platzes, wo früher die Mauer zwischen West- und Ostberlin verlief.  Da wir durch unseren Deutschlehrer Herrn Nagler und dessen berüchtigte Lektüre-Tests zu Leseratten geworden waren, brauchten wir für das Durchlesen all der historischen Informationstafeln aber nur 15 Minuten statt der vorgesehenen Stunde. Niemals zugeben würden wir natürlich, dass die Hälfte der Klasse die beschrifteten Schilder gar nicht wahrgenommen, aber dafür wunderschöne Selfies und Photos gemacht hat.

Das Highlight am Dienstag war die Spreerundfahrt. Doch dabei meine ich nicht nur die Fahrt selbst, bei der wir zahlreiche Berliner Sehenswürdigkeiten vom Wasser aus bestaunen durften. Viel erwähnenswerter ist, dass nach der mehrmaligen Erinnerung, bitte pünktlich zu sein, die ganze WGJ1B rechtzeitig am Bootssteg eintraf. Es fehlten nur zwei Personen - Frau Zeiler und Herr Nagler. Fassungslosigkeit bei allen Schülern. Erst das Nichterscheinen und dann noch das Nichtrangehen ans Handy. Gut zu wissen, dass die beiden im Notfall erreichbar sind ;). Die Fahrt musste also ohne sie stattfinden. Als Ausrede, äh ich meine natürlich Begründung, erzählten sie nach unserer Rückkehr an Land, dass sie zum falschen Bootssteg gelaufen seien. Aber ob diese Geschichte wahr ist? I doubt it. Allzu vorlaut darf ich nun aber auch nicht werden, da Pünktlichkeit in Berlin auch nicht zu meinen Stärken gehörte.

Am selben Tag besuchten wir auch die East-Side-Gallery und erfuhren dort von einem uns nicht unbekannten Referenten mehr über die Berliner Mauer. Danach ging es zum berühmten Holocaust-Mahnmal, wo ein Teil der Klasse auch das unterirdische Informationszentrum über die Geschichte der Judenverfolgung und -vernichtung besichtigte. Die vielen erschütternden Fotos vom Holocaust machten uns den Schrecken der damaligen jüdischen Opfer lebendig und hochemotionale Textquellen, wie z.B. Abschiedsbriefe von Juden, die genau wussten, dass sie in den Tod geschickt werden, rührten uns buchstäblich zu Tränen.

Am Mittwoch früh fuhren wir dann tief in den Westen Berlins ins altehrwürdige Olympiastadion. Wie beeindruckt waren wir von dessen gigantischer Architektur und den monumentalen Athleten-Statuen. Wir durften die Kabinenplätze testen, auf denen bereits Neymar und Messi gesessen hatten, und konnten gerade noch verhindern, dass Otti sich direkt umzog und hochmotiviert auf den Platz sprintete. Von unserer tollen Führerin, ähhh Referentin, erfuhren wir dann alles über die Olympischen Spiele 1936 in diesem Stadion, als der Afroamerikaner Jesse Owens vor den Augen des wutentbrannten Adolf Hitlers vier Goldmedaillen gewann und von den deutschen Zuschauern lautstark dafür gefeiert wurde. Auf Hitlers damaligem Führer-Balkon sitzend, staunten wir nicht schlecht, als wir hörten, dass der damalige deutsche Superstar Luz Long seinen großen Konkurrenten Jesse Owens zuerst vor dem Ausscheiden beim Weitsprung bewahrte und ihn nach dessen Goldmedaille fair umarmte und so vor 100 000 Zuschauern die NS-Rassenideologie Lügen strafte, da er demonstrierte, dass Hautfarbe keine Rolle spielt, sondern Sport verbindet.

Am Mittwochnachmittag ging es dann hinab in den Berliner Untergrund. Wir besichtigten nämlich einen Fluchttunnel von Ost- nach Westberlin und erfuhren hautnah dramatische Fluchtgeschichten aus der DDR, die uns verdeutlichten, welch unfassbaren Aufwand die DDR betrieb, um ihre Bürger einzusperren und welche lebensgefährlichen Risiken DDR-Bürger eingingen, um dieser Diktatur im demokratisch-sozialistischen Gewand zu entkommen.

Am Donnerstag früh waren wir dann im Reichstag eingeladen, wo es auch toll war. Wir durften auf der Zuschauertribüne des Plenarsaals Platz nehmen und einer Bundestagsdebatte lauschen, die so spannend war, dass manch eine von uns gegen den Sekundenschlaf ankämpfen musste. Dass dies mit unserem engagierten Nachtprogramm ohne die Lehrer zu tun haben könnte, ist natürlich eine üble Unterstellung. Um uns wieder aufzuwecken, nahm sich der Nürtinger Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich die Zeit, sich von uns Löcher in den Bauch fragen zu lassen, was sich zu einer politischen Diskussion entwickelte. Natürlich bestiegen wir auch die spektakuläre Kuppel des Reichstags, wo wir unsere Smartphone-Speicherkarten mit Fotos füllten. Um wieder zu Kräften zu kommen, durften wir zum Abschluss sogar in der Bundestagskantine mittagessen.

Abends wartete ein Höhepunkt unserer Studienfahrt: Wir besuchten das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen. Dies war für mich einer der einschneidendsten Programmpunkte der ganzen Woche. Eine Führung, die aus meiner Sicht jeder einmal machen sollte. Denn die Haftanstalt mit ihren im Originalzustand belassenen Zellen und Verhörräumen zu sehen, ist schon schrecklich genug. Doch die Details des unmenschlichen Haftalltags, die Methoden der Stasi und der Gefängniswärter von einer wirklichen Ex-Gefangenen vor Ort erzählt zu bekommen, ist noch etwas ganz Anderes und gab mir ein flaues Gefühl im Magen. Im Gefängnishof, der ursprünglich natürlich nur den Wärtern offengestanden war, erzählte uns die ehemalige Insassin dann ihre berührende Lebens- und Liebesgeschichte und zeigte uns die damaligen Zeitungsartikel über den Kampf ihres Freundes, der von Westberlin aus verzweifelt versucht hatte, sie aus dem Gefängnis zu befreien. Da sind einige Tränen bei mir geflossen – und damit war ich beileibe nicht die Einzige. Keine andere Gedenkstätte hat sich aus meiner Sicht so realitätsnah angefühlt wie diese.

Nach fünf Tagen sind wir nun schon am Abreisetag angekommen. Nach dem Frühstück ging es im ICE-Schlafwaggon zurück in Richtung Heimat. Herr Nagler hatte an diesem Tag fast keine Stimme mehr - ob er wohl zu viel feiern war? Einige Schüler waren danach ebenfalls krank - etwa eine geheime Party-Gruppe? Wir werden es wohl nie erfahren. Doch was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass diese Studienfahrt das Highlight des Schuljahres war und Berlin immer mit uns in Verbundenheit bleiben wird. Deshalb gilt an dieser Stelle ein ganz großes Dankeschön an Frau Zeiler und Herrn Nagler, die diese für sie sicherlich sehr anstrengende Woche mit uns verbracht haben.

Lina Javorovic

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