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Viel mehr als eine Abiturvorbereitung – Die WGJ1C bei „Corpus Delicti“ im Theater „JES“

„Die Bretter, die die Welt bedeuten.“ So bezeichnete der wohl berühmteste deutsche Dramatiker Friedrich Schiller die Theaterbühne. Einen bedeutenderen Ort als das Theater konnte sich Schiller also kaum vorstellen. Denn die Stücke, die auf der Bühne inszeniert werden, behandeln die großen Themen der Menschheit. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Theaterbesuche waren während der letzten beiden Jahre allerdings durch die Corona-Pandemie kaum möglich. Umso mehr freuten wir, die WGJ1C der Nürtinger Albert-Schäffle-Schule, uns darauf, eine Vorstellung des „Jungen Ensemble Stuttgart“ (JES) zu besuchen. Am 25. Januar wartete auf uns das von Brigitte Dethier inszenierte Stück “Corpus Delicti”.

Der Bestseller von Juli Zeh handelt von der Biologin Mia Holl, welche in der Mitte des 21. Jahrhunderts in einer Gesundheitsdiktatur leibt und lebt. Die sogenannte „Methode” regiert und überwacht die Gesellschaft und verspricht durch den medizinischen Fortschritt ihren Bürgern absolute Gesundheit - wenn sie ihren Vorschriften bedingungslos Folge leisten. Das Stück kreist nun um den Konflikt zwischen garantierter Gesundheit und unkritischer Anpassung einerseits und individueller Freiheit anderseits. Also ganz im Sinne Schillers um eine großes, kontroverses Thema, das uns alle angeht. 

Foto: Julia Sang Nguyen mit freundlicher Genehmigung des "JES"

Im Theatersaal wurden wir von einem weißen, demonstrativ "cleanen" Bühnenbild begrüßt, welches die Sterilität der Gesundheitsdiktatur widerspiegelte. Rechteckige „Löcher” und Erhöhungen dienten als Sitzmöglichkeiten oder Stauräume, z.B. als Mia plötzlich einen dieser Kästen aufklappte, um ihr Fahrrad zu enthüllen. Weiche Formen oder gar Bequemlichkeit suchte man vergebens, abgesehen von einem weißen Sofa, das das Bühnenbild schmückte. Ein recht kleiner grauer Schrank entblößte Wasserbecher und Karaffe, um eine Küche zu symbolisieren. Keine Frage, hier wurde alles auf Minimalismus und zweckdienliche Anwendung ausgelegt - also ganz so wie der Methodenstaat, der ja auch vollständig dem Prinzip der Funktionalität gehorcht. Der Hintergrund der Bühne bestand aus rechteckigen Leinwänden. Diese konnten verschoben werden und dienten als Türen, wenn die Schauspieler die Bühne betraten oder verließen. Ergänzt wurden sie um zwei weitere Leinwände, die oben links wie rechts hingen. Dort wurden vorgedrehte Aufnahmen gezeigt, welche auf der Bühne mit den vier Schauspielern wohl nur schwer darstellbar gewesen wären, wie z.B. Mias Erinnerungen und die Gerichtsverhandlungen. Auch Landschaften oder die Eiskammer wurden mit Hilfe der Leinwände visualisiert - eben alles, was nicht Mias Wohnung oder  ihre Gefängniszelle darstellte.

Gleich die erste Szene des Stückes war vermutlich jene, welche uns am meisten verwirrte. Denn diese zeigte die beiden Hauptcharaktere Mia Holl und Heinrich Kramer, gespielt von Anna-Lena Hitzfeld und Johannes Nehlsen, während Mia eine Zigarette rauchte. Aber, war das nicht die letzte Szene des Romans? Hatten wir und die Regisseurin etwa unterschiedliche Versionen von "Corpus Delicti" gelesen? Im Laufe des Spiels stellte sich dann heraus: Nein, das hatten wir nicht. Das Stück wurde vielmehr mit derselben Szene begonnen wie beendet, um eine Art Kreislauf darzustellen. Diese Anfangs- und Endszene symbolisiert Mias Entwicklung und prognostiziert diese, indem wir die vollendete Mia, welche bereit ist als Märtyrerin zu sterben, noch vor ihrem methodensympathisierenden-Ich kennenlernten. Interessant war für uns auch das Erscheinungsbild der Schauspieler. Kramer war schick gekleidet, sein Äußeres strahlte Eleganz, Ordnung und Eitelkeit aus - denn auch im Roman betont Kramer: "Das Wichtigste im Leben ist Stil". Mias Erscheinungsbild hingegen wirkte weniger schick oder auf ihr Äußeres bedacht - denn auch im Roman ist Mia besonders zu Beginn rational und der Auffassung, die Bedeutung des Äußeren verfliege bei jedem weiteren Treffen.

Foto: Julia Sang Nguyen mit freundlicher Genehmigung des "JES"

Besonders interessant für uns Zuschauer war es, wie viel sich hinter den Figuren auf den Leinwänden abspielte, wie z.B. Mias Erinnerungen an ihren verstorbenen Bruder. Moritz wurde hierbei von Sebastian Brummer verbildlicht und entweder in der Natur oder in seinen letzten Augenblicken im Gefängnis gezeigt. Genauso wie der Rest der Bühne wurde das Gefängnis schlicht dargestellt. Ohne den Kontext zu kennen, hätte man als Zuschauer vermutlich nicht gewusst, um welchen Ort es sich hier handelte. Trist erstrahlen die Wände der Zelle und wir konnten Moritz' Gefühle der Einsamkeit und Freiheitsberaubung, von der Außenwelt isoliert und verstoßen, tatsächlich nachvollziehen. Zum ersten Mal dachten wir darüber nach, wie verständlich der Selbstmord von Moritz doch eigentlich war - denn welcher beschuldigte Schwerverbrecher begeht denn bitte Selbstmord, wenn er doch so von seiner eigenen Unschuld überzeugt war? Der Schauspieler brachte Moritz' Gefühle und dessen Lebenseinstellung perfekt rüber: Die Verzweiflung in seinen Augen, während er Mia um die Angelschnur bat, sie fast schon einforderte, aber auch die Überzeugung in seiner Stimme als er sich gegen die Methode äußerte. Bei der Lektüre hatte Moritz für viele von uns noch als fast schon nervig und nicht emphatisch gegolten, weil er so viel Verständnis von seiner Schwester abverlangte, ihr seine eigene Ideologie fast schon aufzwingen wollte, aber gleichzeitig kein Verständnis für sie übrig zu haben schien. Auf der Bühne wirkte er hingegen sehr viel ausgeglichener und liebevoller gegenüber Mia.

Foto: Julia Sang Nguyen mit freundlicher Genehmigung des "JES"

Auch die Darsteller der idealen Geliebten und von Mias Rechtsvertreter Dr. Lutz Rosentreter brachten ihre Rollen sehr anschaulich rüber. Die ideale Geliebte, im JES verbildlicht von Laura-Sophie Warachewicz, war in weiße, fast schon deckenartige Kleidung gehüllt und erzeugte eine engelsgleiche Erscheinung. Für uns bildete das eine gute Ergänzung zum Roman, da sie dort äußerlich kaum beschrieben wird. Dennoch wahrte die ideale Geliebte auch auf der Bühne eine gewisse Anonymität - eine Fantasiefigur, welche Mia mit Sicherheit anders aufnahm als Moritz es getan hatte. Die Simplizität der idealen Geliebten spiegelte in unseren Augen vor allem Mias Auffassung einer idealen Geliebten wider. Ähnlich war es mit Dr. Lutz Rosentreter, gespielt von Maximilian Schaible. Seine Kleidung, in warmen Tönen gehalten, erinnerte uns in verdrehter Weise an einen Gärtner, was in Anbetracht seines Namens fast schon ironisch klingen mag. Im Laufe der Inszenierung aber wurde für uns immer klarer, wie sehr dieses Erscheinungsbild zu dem schusseligen Vertreter des öffentlichen Interesses passte. Genauso klar wurde uns Zuschauern, dass man sich während des Lesens jemanden vorgestellt hatte, der dem hier Spielenden glich und doch so verschieden war - ein imperfektes Spiegelbild.

Dass die Gerichtsverhandlungen „nur“ nebenher auf den Leinwänden als Aufnahmen spielten, brachte in das Stück eine Dynamik, welche es zuvor nicht besaß. Mit interessanten Effekten wurden die Aussagen der Richterin Sofie, dargestellt von Caro Mendelski, verstärkt und kamen uns so viel kürzer vor als im Roman. Besonders während dieser Szenen wurde uns vor Augen geführt, wie streng die Justiz im Methodenstaat vorgeht. Außerdem erinnerte uns so manche Szene fast schon an die Realität und an das Leben mit dem Coronavirus. Denn auch wir Schüler mussten uns testen lassen oder gar geimpft sein, um am öffentlichen Leben teilzunehmen. Denn auch wir Schüler konnten eine längere Zeit lang kulturelle Angebote nicht mehr wahrnehmen. In Bus und Bahnen trugen wir Masken und bemerkten, wie sich manch Einer nicht traute, den Platz neben uns aufgrund des Infektionsrisikos zu besetzen. Deshalb verstand jeder von uns im Publikum: Das, was dort auf der Leinwand passiert, unterscheidet sich gar nicht so sehr von der Realität des 21. Jahrhunderts.

Foto: Julia Sang Nguyen mit freundlicher Genehmigung des "JES"

Eindrucksvoll war auch die Projektion von Mias Vitalwerten auf den Bühnenboden, während sie auf dem Fahrrad den verpflichtenden Sport trieb. Denn diese Szene symbolisierte den technischen Fortschritt und die totale Überwachung im Methodenstaat. Mias Zelle, welche durch einen kleinen gefliesten Teil der Bühne symbolisiert wurde, verlangte von uns Zuschauern ein wenig Kreativität, um den restlichen Teil der Bühne, welche noch immer Mias Wohnung darstellte, auszublenden. Mias Folterung wurde auf den Leinwände als kurzer Clip implizit veranschaulicht. Die plötzliche Dunkelheit und die laute kraftvolle Musik lösten in uns Zuschauern eine kurze Erschrockenheit aus. Einerseits verfolgten wir gebannt das Video auf den Bildschirmen, anderseits verlor die Szene in unseren Augen ein wenig an Ernsthaftigkeit und ruhte sich auf dem Vorwissen und der Vorstellungskraft des Zuschauers aus. Denn wir hätten uns gewünscht, ein wenig mehr von der Skrupellosigkeit dieser Tat mitzubekommen. Schließlich stellt eben jene emotionale Kälte und Rücksichtslosigkeit einen wichtigen Part Kramers und des Methodenstaats dar.

Insgesamt war das Stück reduziert und um manche Szene und Figur beschnitten - so wurde nur eine von Mias Verhaftungen gezeigt und auch die anderen Bewohnerinnen des Wächterhauses kamen nicht vor. Dies hatte einerseits den Vorteil, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne als Zuschauer nicht gefährdet war, anderseits blieb für uns manche Frage offen. Zum Beispiel wurde in unseren Augen nicht wirklich klar, dass Mia durchaus Fans hat - z.B. ihre Nachbarin Driss. Auch lernten wir den Talkshowmoderator Würmer nicht kennen, der die staatstreuen, völlig unkritischen Medien repräsentiert und uns Lesern verdeutlicht hatte, dass die Medien ihre politischen Kontrollfunktion verweigern und so den Methodenstaat mit ermöglichen. Auch die Szene, in welcher Mia sich den Chip aus ihrem Arm entfernt, vermissten wir ein wenig. Denn gerade diese Szene hatte für uns im Roman Mia Holls endgültige Wandlung von einer braven Methodenbefürworterin zu einer kompromisslosen, opferbereiten Widerstandskämpferin demonstriert

Zusammenfassend kann man aber definitiv sagen, dass sich der Theaterbesuch im "Jungen Ensemble Stuttgart" gelohnt hat. Wir konnten als Klasse einen tollen gemeinsamen Abend verbringen und die Inszenierung ergänzte viele visuelle Aspekte und verdeutlichte uns Sachverhalte des Romans nochmals. Allerdings war es wichtig, den Roman zuvor gelesen zu haben. Für uns war der Theaterbesuch eine schöne Ergänzung und Belohnung für die Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk in der Schule. Und ein wenig Teilnahme am kulturellen Leben schadet ja auch niemandem. Da hätte uns sicherlich auch Friedrich Schiller zugestimmt und wäre ganz bestimmt mitgekommen ins JES.

Juli Beck

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